Erfolgreiche Brut auf dem Rathausdach in Braunschweig
Ein paar aufmerksame Beobachter haben es vielleicht schon mitbekommen und kürzlich wurde es auch in der Zeitung berichtet: es gibt in der Innenstadt von Braunschweig Möwen zu sehen und zu hören. Wir erklären, was es damit auf sich hat.
von Christof Bobzin
In Abwandelung des Sprichworts von Berg und Propheten: Wenn man keine Zeit hat, ans Meer zu fahren, ist es doch ganz nett, wenn ein Teil davon zu uns kommt. Und nein, ich spreche nicht vom Anstieg des Meeresspiegels, sondern von den Möglichkeiten der Vogelbeobachtung.
Mit dem Austernfischer haben wir schon einige Zeit einen typischen Küstenvogel im Binnenland – etwa 30 Paare brüten hier in der Region auf Flachdächern von Schulen und Turnhallen oder auch auf einem Polizeirevier. Brandgänse, ein Anblick, den man sonst nur von der Nordsee kennt, fühlen sich in den Braunschweiger Rieselfeldern wohl und haben dort einen kleinen Brutbestand etabliert. Und am Ilkerbruchsee gab es eine Zeit lang ein Brutvorkommen der Flussseschwalbe. Die verschwand vor 2020 wieder. Nun ist dafür ein anderer Neubürger aus der Kategorie der Küstenvögel hinzugekommen: die Silbermöwe.
Entlang der großen Flüsse ist die Ausbreitung von Arten der Küste bis ins Binnenland hinein nicht ganz ungewöhnlich. So finden sich einzelne Brutpaare von Silber- oder Sturmmöwen schon länger in einigen Städten an der Weser oder Elbe. Sie brüten dort meist auf höheren Gebäuden mit Flachdächern, vor allem, wenn diese eine Kiesschüttung aufweisen. Hier in der Region gab es so etwas bislang noch nicht.
Fotos: Gerhard Braemer
Ein Brutnachweis in der Braunschweiger Innenstadt
Es hat sich schon etwas länger angedeutet. Eine einzelne übersommernde Silbermöwe treibt sich seit ein paar Jahren in der Braunschweiger Innenstadt herum. Sie hielt sich vor allem im Bereich des Bohlwegs, an Rathaus und Schlossarkaden auf Flachdächern auf. Irgendwann – im letzten oder vorletzten Jahr – gesellte sich ein zweiter Vogel dazu und nun hörte man auch gelegentlich den sogenannten Katzenruf, hier ein Hörbeispiel …
Dem niederländischen Verhaltensforscher Niko Tinbergen nach, der in den 1940er und 50er Jahren die Silbermöwe erforschte, drückt der Katzenruf („mew call“) Verbundenheit mit dem Brutplatz, der Kolonie oder dem Partner aus. Er ist daher auch nicht einer der alltäglichsten Möwenrufe und eben nur in solchen Situationen zu hören. Das ließ die weitere Entwicklung vorausahnen.
Und tatsächlich fand Gerhard Braemer, ein in der Region sehr aktiver Vogelbeobachter, der sich schon seit längerem gründlich mit Möwen beschäftigt, beim Besteigen des Rathausturms am 14. Juli 2025 den endgültigen Beweis: die Silbermöwen haben wohl auf dem Rathausdach gebrütet und erfolgreich drei Junge großgezogen. Ob es das erste Mal war, oder die Vogel schon im Vorjahr zur Brut schritten, bleibt offen. Vögel, die hoch oben auf Flachdächern brüten, entziehen sich eben dem Blick von unten.
Gelungen sind schöne Fotos von unseren „Neubürgern“. Zum Zeitpunkt der Fotos waren die junge Möwen schon flügge und hatten das Dach eines gegenüberliegenden Hauses am Platz der Deutschen Einheit bezogen, wo sie sich von den Eltern noch füttern ließen. Was ins Auge fällt, ist, dass dem Männchen ein Fuß fehlt. Die Jungen tragen übrigens noch das bräunlich geschuppte Jugendkleid. Sie werden eine Reihe weiterer „Kleider“ durchlaufen und erst nach etwa vier Jahren aussehen wie die Eltern im sogenannten Adultkleid.
Neben dem genannten Paar scheint es nun auch noch weitere übersommernde Großmöwen in der Innenstadt zu geben. Gelegentlich sieht man nämlich mehr als zwei Vögel über dem Bohlweg herumfliegen oder – ein malerischer Anblick – im Abendlicht auf dem Dom sitzen.
Auch in Wolfsburg ist eine solche Entwicklung zu beobachten. Dort treiben sich Großmöwen im Bereich des Mittellandkanals an der Autostadt und auf den Flachdächern des Nordkopfes herum. Neben Silber- und Steppenmöwen kann man hier auch einzelne Mittelmeer- und Heringsmöwen sehen.
Komplizierte Verwandtschaft
Die Silbermöwe gehört zu den größeren Arten der Gattung Larus, den sogenannten Großmöwen. Diese Artengruppe ist auch für Ornithologen kein ganz einfaches Thema. Vor einigen Jahren war bei großen Möwen mit hellem Rücken noch klar: das sind Silbermöwen. Genetische Erkenntnisse führten aber dazu, dass diese Art aufgespalten wurde. Bei uns gibt es daher nun drei sehr ähnliche Arten: die in Nord- und Westeuropa verbreitete Silbermöwe, die eher östlich verbreitete Steppenmöwe und die Mittelmeermöwe, die, wie der Name sagt, im Mittelmeerraum verbreitet ist, aber auch teils schon in Süddeutschland als Brutvogel zu finden ist.
Alle drei Arten sind in unserer Region als Gastvögel vertreten. Silber- und Steppenmöwe sind dabei – je nach Jahreszeit in wechselnder Anzahl – die beiden häufigsten, dazu kommt eine „Handvoll“ Mittelmeermöwen. Zudem gibt es auch noch die sogenannten Hybriden, bei denen es sich um „Mischlinge“ zwischen den Großmöwenarten handelt. Ein häufiger Typ sind dabei Hybriden zwischen Silber- und Steppen- aber auch Silber- und Mittelmeermöwe.
Großmöwen sind opportunistische Allesfresser. Sie finden daher auch im Umfeld des Menschen reichlich Nahrung. Besonders häufig sind sie an Mülldeponien zu finden, aber auch Innenstädte scheinen genug zu bieten zu haben.
Die Silbermöwe war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland fast dem Aussterben nahe, da man gerne die Eier aus den Kolonien sammelte. Ein Verbot des Eiersammelns und später die Einrichtung großer Mülldeponien, auf denen die Möwen reichlich zu fressen fanden, führten gegen Mitte des Jahrhunderts zu einem starken Bestandsanstieg. Da man eine Auswirkung auf die Bestände anderer Seevögel befürchtete – Silbermöwen betätigen sich auch als Nesträuber – wurde die Art zeitweise sogar bekämpft. Durch die Abdeckung der meisten Mülldeponien gingen die Bestände dann jedoch von selbst wieder zurück.
Die einzige Möwenart, die hier in der Region schon länger als Brutvogel heimisch ist, ist die Lachmöwe. Sie ist deutlich kleiner als die Silbermöwe und hat in der Brutzeit einen dunkelbraunen Kopf. Schnabel, Beine und Füße sind rot. Von dieser Art gab es früher einige Kolonien in der Region. An Mülldeponien, Kläranlagen und Zuckerfabriken mit Klärteichen fand sie günstige Bedingungen. Anders als die Silbermöwe spielen bei dieser Art auch Insekten eine größere Rolle als Nahrung, die in fauligen Klärschlämmen massenhaft gedeihen. Nachdem die meisten Kläranlagen modernisiert und Mülldeponien abgedeckt wurden, ging der Bestand der Lachmöwe stark zurück. Als Brutvogel ist sie nur noch sehr selten zu finden, zieht aber in teils größeren Zahlen durch.
Wintergäste und Durchzügler
Überwinternde Großmöwen, das letzte Bild zeigt eine seltene Polarmöwe. Fotos: Christof Bobzin
Wer in der Region gerne Möwen beobachten möchte, der sollte das im Winter tun, denn zu dieser Jahreszeit überwintern viele Großmöwen im Binnenland. Das sind überwiegend Silber- und Steppenmöwen, in kleineren Zahlen kommen Mittelmeer-, Sturm- und Lachmöwe hinzu. An Mülldeponien und größeren Schlafgewässern kommen dabei durchaus mal tausende Möwen zusammen. In der Region sind es wohl insgesamt bis zu 5000. Nicht ungewöhnlich sind Ansammlungen von ein paar hundert bis zu 2000 Individuen, größere Versammlungen von bis zu 8000 Vögeln sind wohl sehr selten geworden, kamen um die Jahrtausendwende aber auch vor.
Seltener, aber regelmäßig sind auch Mantel- und Heringsmöwe, beide mit dunklem Rücken, hier zu beobachten. In manchen Jahren kann man im Winter auch ganz besondere Seltenheiten sehen wie Eis-, Polar-, Tundra- oder Kumlienmöwe.
In kleinen Zahlen ziehen regelmäßig Zwerg- und Schwarzkopfmöwen durch und gelegentlich auch Irrgäste wie kürzlich eine nordamerikanische Präriemöwe.